„Kein Wissenschaftler kann spitze sein in seinem Fach und zugleich in der IT“

Mehr als 50 Jahre arbeitete Heinz-Gerd Hegering für das Leibniz Rechenzentrum (LRZ): 1968 stieg er als wissenschaftlicher Mitarbeiter ein, promovierte in Mathematik  und wurde 1989 Mitglied und Leiter des Direktoriums. Unter Hegerings Ägide entwickelte sich das LRZ zum nationalen Höchstleistungsrechenzentrum und zog von München nach Garching, außerdem baute der Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität den Studiengang Informatik auf. 2008 gab Hegering die Leitung des LRZ ab, 2019 wurde er auch als Direktor verabschiedet. Zum 50 Geburtstag des LRZ, 2012, verfasste der Wissenschaftler eine Chronik des LRZ, die jetzt digital abzurufen ist und ein buntes Kaleidoskop aus Geschichten rund ums LRZ aufzeigt.

Wie entstand 2012 die Chronik des LRZ? Prof. Dr. Heinz-Gerd Hegering: Was mich damals an der Chronik gereizt hat, war, dass damit nicht nur die Geschichte des LRZ zu schreiben war, sondern sich auch die der Entwicklung von Informatiksystemen ergab. Als ich Mathematik studierte und darin promovierte, gab es das Fach Informatik noch gar nicht. Kurz nachdem ich beim LRZ angefangen hatte, wurde Professor Gerhard Seegmüller dort Leiter des Direktoriums. Er brachte aus den USA Forschungsfragen zu Rechnersystemen und deren Anwendungen mit, das war damals neu. Zusammen mit einem LRZ-Kollegen gehörte ich zu den kritischen Probe-Zuhörern seiner Vorlesungen, zuvor gab es keine Begriffe oder Definitionen für IT-Technik und ihre Funktionen. So mutierte ich immer mehr zu einem Informatiker. Zu meinen ersten Aufgaben am LRZ gehörte der Aufbau einer Programm-Bibliothek für statistische Anwendungen sowie die Beratung der Nutzer in statistischen und numerischen Methoden. Später beschäftigte ich mich mit Systemprogrammierung, Netzen und Kommunikationssystemen, Einsatzmöglichkeiten für Personal Computing, IT-Infrastrukturen und Konzepte für IT-Management.

Hatten Sie Hilfe bei den Arbeiten an der Chronik? Hegering: Dr. Dietmar Täube, der frühere stellvertretende Leiter des LRZ, und ich begannen wahrscheinlich im Herbst 2011 mit der Chronik zum 50. Geburtstag. Er hatte den Überblick zu allen praktischen Fragen über die Organisation, lieferte die Informationen zu Beschäftigten, Technik und Strukturen. Das LRZ war und ist in Bayern und Deutschland eine einzigartige Einrichtung. Im Vergleich zu anderen Hochschul-Rechenzentren war es von Beginn an für zwei Universitäten und damit für einen deutlich größeren und heterogeneren Nutzerkreis zuständig. Die Vernetzung von räumlich verteilten Nutzern, aber auch die Fächervielfalt der Hochschulen setzte eine andere technische Ausrichtung und ein komplexeres betriebliches Handeln voraus. Umgekehrt waren wir oft technisch voraus, weil wir immer schon größere Systeme als andere Hochschulrechenzentren aufbauen mussten. Außerdem war das LRZ an einer damals überwiegend geisteswissenschaftlich orientierten Akademie, der BAdW, angesiedelt und daraus ergaben sich häufig inhaltlich wie verfahrensmäßig viel größere Spielräume, die noch immer bestehen. Wir konnten mit dieser Sonderstellung hochschulübergreifende Aufgaben übernehmen und auch auf andere, zusätzliche Finanzierungsquellen hoffen. Dadurch öffneten sich viele innovative Experimentierfelder – jüngste Beispiele sind etwa die Visualisierung, Pilotierungen mit energieeffizienten Rechnerarchitekturen oder die Bereiche Quantencomputing, Big Data. Die Arbeiten an der Chronik gingen 2011 jedenfalls flott voran, wir hatten am LRZ ein gutes Archiv und schon viel zu den Infrastrukturen und Systemen gesammelt und dokumentiert.

Was hat Sie während der Recherchen überrascht? Hegering: Dass tatsächlich mit der LRZ-Chronik eine Geschichte der Informatiksysteme in Deutschland entstand, allerdings nicht nur aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel, sondern auch aus Sicht von Anwendern und IT-Infrastrukturen. Wir haben die Chronik des LRZ systemorientiert aufgebaut, beschreiben also eher die computertechnischen Hilfsmittel von Lehre und Wissenschaft im Laufe der Zeit. Das war und ist für die Informatik interessant, denn mit dem Aufkommen neuer Systeme mit noch unbekannter Funktionalität ergaben sich neue Betriebs- und Forschungs-fragen: Wie lassen sich Hunderte von regionalen Standorten und unabhängige Organisationen vernetzen? Wie funktionieren verteilte Netze? Wie ist ein Verbund von tausenden Servern effizient und sicher zu betreiben? Welche Managementkonzepte und Sicherheitsmaßnahmen eignen sich dafür? Welche Datenbanken und Software eignen sich für den Betrieb von tausenden PC und Clients? Was ist sinnvoll in Clouds auszulagern? Die Anwendungsnähe des LRZ, der Erfolg der wissenschaftlichen Projekte und ein professionelles IT-Management gaben sicher um das Jahr 2000 den Ausschlag, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Wissenschaftsrat einen nationalen Höchstleistungsrechner bei uns platzierten.

Sie haben das LRZ von 1989 bis 2008 geleitet – was war Ihnen wichtig? Hegering: Das LRZ sollte über eigene Forschungsvorhaben einen Know-how-Vorsprung und Expertise in den rechnernahen Wissenschaften gewinnen. Das ist die Voraussetzung für die Entwicklung innovativer IT-Dienste. Wir wollten neueste Technik pilotieren und deren Einsatz voranbringen. Und wir wollten führend sein bei der Beratung von Nutzern: Astrophysiker, Naturwissenschaftler und Mediziner können nur gut rechnen, wenn sie von IT-Systemen und IT-Spezialisten optimal unterstützt werden, die zu ihren Anwendungen passen. Kaum ein Wissenschaftler kann wirklich Spitze sein in seinem Fach und zugleich auch noch in der IT. Deshalb sind enge Kooperationen zwischen IT-Fachleuten und Fachwissenschaftlern so wichtig.

Würden Sie heute Dinge anders machen oder entscheiden? Hegering: Nicht viele. In unserem Rechnerwürfeln stecken bereits mehrere Hundert Millionen Euro. Sollen die Systeme dort gut betrieben werden, muss es Leute geben, die nicht nur technisch kompetent und wissenschaftlich interessiert sind, sondern vor allem unsere Nutzer bei deren Projekten unterstützen wollen. Dienstleistungen werden ja gerne angenommen, aber nur selten honoriert. Das gilt leider oft auch für die wissenschaftliche Reputation der IT-Anwendungsunterstützung, etwa im Umfeld von Promotionsverfahren, bei Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften oder auf Konferenzen. Das Problem kann es auch im LRZ geben, Forschungsprojekte machen vielleicht manchmal mehr her als die Aufgabe, die Systeme am Laufen zu halten. Als Vorgesetzter muss man also aufpassen, dass es eine gute Balance zwischen Dienstleistung und wissenschaftlicher Arbeit gibt. Diese Herausforderung war und ist sicher nicht trivial.

Was machen Sie heute? Hegering: Ich bin nach wie vor mit dem LRZ eng verbunden und stehe in gutem Kontakt mit Arndt Bode, Dieter Kranzlmüller, Helmut Reiser sowie weiteren Mitgliedern aus dem Direktorium. Einige Alltagsfragen und Problemstellungen bekomme ich noch immer mit, aber ich durchdenke sie nicht mehr. Wenn ich um Rat gefragt werde oder mir etwas auffällt, dann sage ich das schon, einmischen werde ich mich natürlich nicht. Hinzu kommt, dass die Innovationsrate in unserem Fach so hoch ist, dass ich nicht mehr alles verfolgen und verstehen kann. Vielleicht sollte ein neuer Autor die Chronik zum 60. Geburtstag des LRZ fortsetzen und die Entwicklungen und Erfolge in einer auch für Oldies verständlichen Sprache fortschreiben. Noch hätte er fast zwei Jahre Zeit … (vs)

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