Ein Leben fürs Computing: Prof. Dr. Gerhard Seegmüller war der erste Direktor des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) undstellte die Weichen für dessen Entwicklung. Der Mathematiker gehörte nach seiner Promotion zu den ersten Mitarbeitenden des Rechenzentrums, programmierte dort die erste Rechenanlage TR4, beschäftigte sich außerdem mit Datenkommunikation und Algorithmen, wurde 1970 – nach einer Zwischenstation bei IBM und in den Forschungslaboren von Poughkeepsie (USA) und Böblingen – an das gerade eingerichtete, erste Institut für Informatik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) berufen und nebenbei zum Leiter des LRZ bestimmt, das er bis 1988 führte: „Die Ära Seegmüller“, schreibt sein Nachfolger Prof. Dr. Heinz-Gerd Hegering, in der Chronik „50 Jahre LRZ“, „war geprägt durch einen erheblichen systemtechnischen Ausbau des LRZ auf der Basis von systematischen Maschinenentwicklungsplänen, den Aufbau eines Fernzugriffsnetzes mit Außenstationen, den Einbezug der damals aufkommenden Personal Computer (PC) in die Versorgungsstruktur und eine Verstärkung der Forschungsaktivitäten am LRZ.“
Zurück zu den Anfangszeiten der Informatik und Computertechnik: Geht es um den Start des LRZ vor 60 Jahren, fallen meist die Namen des Elektroingenieurs Hans Jakob Piloty sowie der Mathematiker Robert Sauer und Friedrich L. Bauer. Diese Wissenschaftler konstruierten einen der ersten Rechner Deutschlands, die Programmgesteuerte Elektronische Rechenanlage München (PERM), und gründeten 1962 an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BADW) die „Kommission für elektronisches Rechnen“ und damit das LRZ. Die Computer- und Informationstechnologie entwickelt sich und elektrisiert Mathematik wie Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften wie die Physik oder Chemie melden Bedarf am computergestützten Rechnen an. Doch es war Seegmüller, der dem akademischen Rechenzentrum ab 1970 institutionelle Struktur gab und die Neuerungen der Technik zu einer Dienstleistung für Wissenschaft und Forschung machte: Seine bei IBM gesammelten Erfahrungen dürften dazu beigetragen haben, dass der Forscher wissenschaftlich und unternehmerisch dachte.
Der Mathematiker, der bei Prof. Dr. Friedrich L. Bauer und an der Technischen Universität München (TUM) promoviert hatte, startete seine Laufbahn 1963 am Rechenzentrum als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Dort beschäftigte er sich intensiv mit der Systemprogrammierung der TR4 von Telefunken, der ersten LRZ-Rechneranlage. Auf Seegmüller ginge, so ist es in der Festschrift „40 Jahre Informatik in München“ zu lesen, die deutsche Bezeichnung „Betriebssystem“ zurück, außerdem lieferte er wegweisende Grundlagen zur Nutzung von Computern: etwa Lösungen zur Organisation des Mehrprozess-Betriebes sowie Programmierschemata. „In den 1970er Jahren entwickelten sich dann neuere Rechnertypen, die Mehrprozessoren- oder Universalrechner, außerdem wurde Kommunikation zwischen Computern ermöglicht, und nicht zuletzt entstanden die ersten Personal Computer“, erzählt Hegering, damals bereits Mitglied des LRZ-Direktoriums. All diese Zutaten wurden miteinander verbunden und bildeten 1977 ein erstes Kommunikationsnetz mit mehreren Stationen in Bayern: ein Vorläufer des Münchner Wissenschaftsnetzes, das das LRZ heute noch betreibt. Damit wandelt sich das LRZ vom zentralen Rechenzentrum, das die Nutzerschaft noch besuchte, zu einer regionalen Einrichtung, die neben Münchner Hochschulen auch Universitäten und Fachhochschulen in Erlangen, Regensburg und Rosenheim mit Netzwerk, Software und Rechenleistung bediente, auch wenn die Übertragung von Programmen oder Ergebnissen manchmal Wochen brauchte.
Visionär und hartnäckiger Streiter
Zahlen belegen, dass bis 1982 alle sieben Jahre der Bedarf an Rechenleistung vom LRZ um das Achtfache stieg. Die Computerressourcen am Standort in Münchens Barer Straße sind zu dieser Zeit ständig überlastet. Und so entwickelt Seegmüller mit Direktorium und Kommission einen Masterplan: Das LRZ soll Hochleistungs-Rechenzentrum werden, seine Kapazitäten in zwei Schritten bis 1988 auf das Fünffache steigen, die Datenfernnetze sollen ausgebaut und ein neuer Vektorrechner angeschafft werden. „Das war damals die größte Beschaffungsmaßnahme für Computertechnologie im Hochschulbereich“, berichtet Hegering. „Unterschiedliche Teilkomponenten wurden zu einem Gesamtsystem geplant, auch das war neu. Und das Ganze kostete viele Millionen, die mussten wir erstmal von der Politik bekommen.“ Das Team um Seegmüller stemmt auch diese Herausforderung.
Hegering erinnert seinen früheren Chef und Kollegen als korrekt, diszipliniert und strukturiert, fast streng. Neuem gegenüber zeigt sich der Forscher, Professor und LRZ-Leiter äußerst aufgeschlossen, und im Privaten erweist er sich als eigenwilliger, aber angenehmer, ja sogar lustiger Gesprächspartner und Genießer. „Seegmüller hat mich dazu gebracht, dass ich mich als Mathematiker mit Informatik beschäftigte“, erzählt Hegering. „Kurz nachdem ich beim LRZ angefangen hatte, wurde Seegmüller dort Leiter des Direktoriums. Er hatte aus den USA Forschungsfragen zu Rechnersystemen und deren Anwendungen mitgebracht. Zusammen mit einem LRZ-Kollegen gehörte ich zu den kritischen Probe-Zuhörern seiner Vorlesungen, es gab damals noch keine Begriffe oder Definitionen für IT-Technik und ihre Funktionen.“ Seegmüller übergibt seinem Nachfolger 1988 die LRZ-Führung, wechselt als Leiter zur Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in Sankt Augustin, aus der sich das Fraunhofer Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen (SCAI) entwickelt. 1991 kommt der Mathematiker und Informatiker zurück an die LMU, wird Beirat des LRZ und begleitet dessen Geschicke bis 1996. Nach einem erkenntnisreichen und fruchtbaren Leben starb Seegmüller Ende April 2022 mit 91 Jahren in Düsseldorf. Wir trauern mit seiner Familie und sagen leise Servus zu einem IT-Pionier, der mit seinem Wissen und Engagement die Weichen stellte für die Wachstumsgeschichte des LRZ. (vs)